Prolog −
Die Schicksalsfügung

Klirrend zersprang die Scheibe und unzählige Splitter verstreuten sich auf dem Steinboden. Windböen wehten gelb-rote Blätter durch das zersprungene Fenster und zugleich hallte ansteigendes, dumpfes Grollen von den Wänden wider. Iasanara erstarrte in der Bewegung und sah über ihre Schulter. Statt der Sonnenstrahlen, die kurz zuvor den Raum durchflutet hatten, breitete sich Düsternis im Inneren des Turms aus. Die Weltenerbauerin schluckte schwer, den dampfen den Becher in der Hand hatte sie vergessen. Ein Knall und das gleißend goldene Licht hinter den bodentiefen Fenstern lösten Iasanaras Erstarrung. Der Henkel entglitt ihren Fingern und der Becher schlug auf dem Boden auf. Heißer Kräutersud spritzte auf die Robe und auf ihre Füße, sofort färbte sich die blasse Haut rötlich. Den brennenden Schmerz nahm Iasanara nicht wahr. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, zugleich weiteten sich ihre Augen, und ihr leiser Aufschrei vermischte sich mit dem Rauschen des Windes.
Iasanara blickte zu der Bodenöffnung, die zu den geheimen Räumen unter dem Turm führte. Kurz überlegte sie, ob es besser wäre, wenn Liastea ihren Gebieter begrüßen würde und nicht sie. Doch das ohrenbetäubende Knistern der Luft und die Gestalt, die sich aus dem Licht bildete, offenbarten der Weltenerbauerin, dass es ihr nicht gelingen würde, rechtzeitig mit ihrer Schwester zurück zu sein. Kurz schloss Iasanara ihre Augen und atmete den Kräuterduft des verschütteten Tranks tief ein. Zögernd ging sie auf die Tür zu und begann eine Melodie zu summen. Obwohl sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und die Angst zu unterdrücken, zitterten ihre Finger, als sie den Knauf drehte. Noch im Türrahmen stehend blickte sie zum Himmel hinauf. Unbewusst zog sie den Überwurf fester um ihren schlanken Körper. Die feingliedrigen Schieferplättchen auf der Robe schabten gegeneinander, als der Wind hindurchstrich. Umherwirbelnde Blätter verfingen sich in ihrem silbernen Haar. Iasanaras Mundwinkel zuckten, und bevor der Gebieter seine Lichtform ablegte, erschien ein schwermütiges Lächeln. Sich daran erinnernd, dass Weltenerbauer über die Macht verfügten, Planeten zu erschaffen, was nicht einmal dem Schicksalsweber möglich war, gelang es ihr, sich ihm ohne die geringste Spur von Eile zu nähern.
»Gebieter.« Mit gesenktem Blick verneigte sie sich und berührte den dargebotenen Handrücken mit ihren Lippen.
»Die Zeit ist an dir spurlos vorübergegangen, seit wir uns das letzte Mal sahen.«
»Auf dieser Welt waren es Hunderte Winterkreisläufe, aber auf meinem Heimatplaneten Vilor würde nicht einmal einer vergangen sein«, erinnerte Iasanara den Schicksalsweber. Wärme stieg ihr in die Wangen und ein Kribbeln lief durch den Körper. Unsicher lächelnd erhob sie sich. »Seid Ihr bei meinen Brüdern gewesen?«
Er nickte. »Im Gegensatz zu dir haben sie bereits ihre Aufgaben ausgeführt.« Für einen Wimpernschlag huschte ein vorwurfsvoller Ausdruck über sein Gesicht und ein Grummeln floss aus dem Mund.
»Es ist mir nahezu gelungen, die Welt nach Euren Wünschen zu formen«, murmelte Iasanara. Ihr Herz pochte deutlich gegen den Brustkorb. Unbewusst wischte sie mit der schweißnassen Handfläche über die Robe, kaum sichtbare Flecken blieben auf den Steinplättchen zurück.
»Hast du alle Völker erschaffen?« Iasanara trat von einem Bein aufs andere. Obwohl sie nur eine Armlänge von dem Schicksalsweber entfernt stand, verschwamm seine Kontur. Sie bewegte ihren Kopf verneinend und atmete mit gesenktem Blick tief ein.
»Wie kann es sein, dass es deinen Brüdern gelungen ist, die jeweiligen Planeten für Dämonen, Drachen und Menschen zu erbauen, und du dich noch immer mit der Erschaffung der einen Welt auseinandersetzt?«
»Als meine Geschwister und ich uns das letzte Mal trafen, kam es zu einer Meinungsverschiedenheit.«
»Wovon sprichst du?«
Sich räuspernd trat Iasanara zurück. »Liastea überzeugte mich, die Geschöpfe anstatt auf ihrer Welt, auf meiner leben zu lassen.«
»Du wagst es, über meinen Kopf hinweg zu entscheiden!«, sprach er mit donnernder Stimme.
Wimmernd stürzte die Weltenerbauerin auf die Knie und verneigte sich, bis die Stirn das Gras berührte. Ihr Herz raste und das Blut rauschte in den Ohren. Ehrfurchtsvoll streiften ihre zitternden Lippen die Zehenspitzen des Gebieters.
»Ist Liastea im Turm?«
Iasanara drehte das Gesicht zur offenen Tür und nickte zögerlich. Seine Hände umgriffen ihre Oberarme, brannten sich förmlich in ihre Haut. Sie stöhnte auf und biss die Zähne fest zusammen. Ohne darauf zu achten, zog er die Weltenerbauerin mühelos auf die Füße. Sein schwerer Atem kam stoßweise aus dem geöffneten Mund und berührte ihre Wange. Die Fingernägel des Schicksalswebers bohrten sich in Iasanaras Schulter, während er neben ihr ins Innere des Turmes ging.

Der Schicksalsweber grollte. »Wohin bringst du mich?« Er stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen am Rand der Bodenöffnung und blickte in die undurchdringliche Schwärze. Es war ihm deutlich anzusehen, dass ihm der Gedanke, nach unten zu gehen, nicht behagte.
»Dieser Weg führt zu einer Höhle, die von meinen Geschwistern und mir für unsere Treffen verwendet wird.«
»Runya«, sagte der Schicksalsweber mit schneidender Stimme das Magiewort für Feuer. Ein verhaltenes Räuspern ließ ihn auf Iasanara hinabblicken. »Warum kann ich keine Magie weben?«
»Es liegt nicht an Euch«, erklärt Iasanara. »Der Zugang ist nur möglich, wenn man eine Lichtsphäre beschwört. Die Magie in der Luft löscht jedes Feuer, wodurch Geschöpfen, die über kein magisches Wissen verfügen, ein Eindringen angesichts der Dunkelheit verwehrt bleibt.«
»Geh voraus.« Fordernd nickte der Schicksalsweber in Richtung der Öffnung.
»Cala«, flüsterte Iasanara, bevor ihr Körper von der Finsternis verschluckt wurde. Über ihrer Handfläche entstand eine grüne Sphäre. Infolge des Lichts wurden die Steinstufen sowie das spitze Felsgestein, das auf beiden Seiten aus der Wand ragte, aus der Lichtlosigkeit sichtbar. Der von der Höhle heraufkommende kühle Luftstrom spielte mit den Haarsträhnen der Weltenerbauerin. Iasanara streckte den Arm aus.
Die Sphäre schwebte nach links, immer weiter in die Dunkelheit hinein. Mit einem Mal verstärkte sich ihre Helligkeit und enthüllte dadurch den in der Finsternis liegenden Raum. Hellgraue Felswände sogen das sich ausbreitende Licht auf und begannen zu leuchten. Ein polierter Steintisch und fünf Stühle rundherum wurden sichtbar. Auf der schwarzen Oberfläche des Tisches funkelten Kristalle, so zahlreich wie die Sterne am Firmament. Die aus der Decke wuchernden Baumwurzeln verströmten in der Höhle einen holzigen, erdigen Duft. Iasanara sah dem Schicksalsweber erwartungsvoll ins Gesicht.
Er zuckte mit den Schultern und ging weiter die Treppe hinab. »Wo ist Liastea?«
Lautlos seufzend sah die Weltenerbauerin ihm hinterher. »Sie ist in einem Nebenraum.«

Das Geräusch von tropfendem Wasser begleitete sie. Spitzkantige Gebilde, die noch nicht höher als Iasanaras kleiner Finger waren, wuchsen zur Höhlendecke hinauf. Durch das aus der Nebenhöhle scheinende Licht verwandelte sich das Grau der Stalagmiten in eine farbenfrohe Oberfläche. Die verschiedenfarbigen Kristalle am Eingang begannen durch die Lichtsphäre stärker zu glühen. Das Farbspiel keines Blickes würdigend, betrat der Schicksalsweber die Höhle. Schweigend beobachtete er Liastea, die seine Anwesenheit noch nicht bemerkt hatte und eine fröhliche Melodie summte.
Ihr Gesicht war der hinteren Felswand zugewandt. Sie trat zurück und murmelte einige Worte, dabei bewegte sich der ausgestreckte Zeigefinger in der Luft. Auf der Wand erschien die Abbildung eines Gebirges, das sich von Norden nach Süden erstreckte. Iasanara ging am Schicksalsweber vorbei.
»Schwester.« Liastea massierte den Nacken mit der rechten Hand. »Wo war noch mal der Fluss?« Ihre Augen schweiften über das Wandbild.
»Was machst du da?«, fragte der Schicksalsweber, als er dicht hinter ihr stehen blieb.
Mit einem leisen Aufschrei machte sie einen Satz zur Seite und verbeugte sich. »Gebieter! Ich zeichne eine Landkarte.«
Schnaubend betrachtete der Schicksalsweber das gesenkte Haupt. Liasteas grasgrünes Haar verbarg ihr junges Gesicht. Die Blätter auf der Robe raschelten. Einzelne Blumenknospen öffneten sich und drehten die farbenprächtigen Blüten dem grimmigen Schicksalsweber zu.
Obwohl Iasanara etwas abseits stand, umspielte der zarte blumige Duft ihre Nase. Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht, als kurz der Gedanke aufblitzte, dass Liastea absichtlich versuchte, mit ihrer Schönheit und der begehrenswerten Aura den Schicksalsweber milde zu stimmen.
Seine Lippen bewegten sich, ohne ein Wort zu sagen. Im selben Augenblick streckte er den Arm aus. Jedoch berührten die Finger Liastea nicht. Stattdessen verharrte die Hand über ihrem welligen Haar. Zähneknirschend betrachtete der Schicksalsweber die Landkarte. »Was bedeuten die bunten Runen?«
Liastea hob den Kopf. Bevor sie auf die Karte blickte, wechselte sie einen Blick mit Iasanara. Die Weltenerbauerin schloss kurz die goldenen Augen, um der jüngeren Schwester Mut zu vermitteln.
»An diesen Stellen befinden sich die Portale zu den anderen Planeten«, erklärte Liastea. »Die violette Rune im Westen steht für die Welt der Drachen − Xandrian. Die grüne …«
Ruckartig drehte sich der Schicksalsweber Iasanara zu. »Xandrian?«
»Wir dachten, dass die von uns erschaffenen Planeten unsere Namen tragen sollten«, gestand sie mit leiser Stimme.
»Soso, ihr dachtet das. Nicht nur, dass du entgegen meinen Anweisungen gehandelt hast, jetzt wollt ihr sogar noch die Welten benennen!«
»Verzeiht, Gebieter. Wir hätten nicht so anmaßend sein dürfen«, gab Liastea zu. Sie legte ihre kühlen Fingerspitzen auf den muskulösen Arm des Schicksalswebers und lächelte zaghaft.
Die Grübchen auf seinen Wangen zuckten und durch den Körper des Gebieters lief ein deutliches Beben. »Ich habe dich unterbrochen«, keuchte er.
»Die grüne Rune steht für die Menschenwelt Erdun. Zuletzt findet Ihr im Osten die blaue Rune für den Dämonenplaneten Sonterian.« Aufgekratzt ging Liastea bei der Erklärung von einem Symbol zum nächsten. Ihre smaragdgrünen Augen blitzten, als sie sich umdrehte.
»Und wo ist das Portal zu deiner Welt?«
»Ah … ja …«, stammelte sie und drehte sich wieder zur Karte. Sie zeigte auf eine Stelle östlich des gewaltigen Gebirgszuges.
»Ich sehe keine Rune«, stellte der Schicksalsweber fest.
Sie schluckte unsicher und sah zu Iasanara.
Die Weltenerbauerin antwortete anstelle ihrer Schwester: »Das Portal nach Liastea sollte verborgen bleiben.«
»Sag mir den Grund, warum auf deiner Welt keine Völker leben?«
»Es ist mir gelungen, einen Baum zu beseelen«, erwiderte Liastea voller Stolz.
»Die Geschöpfe würden womöglich diese Einzigartigkeit zerstören«, verteidigte Iasanara die Begründung. »Und die minderen Völker haben auf meiner Welt genügend Platz.«
Die Zähne des Schicksalswebers mahlten gegeneinander, zugleich schlossen sich seine Hände zu Fäusten, während sein Blick die Landkarte streifte. Kurz verharrten seine Augen auf der Weltenerbauerin und blieben schlussendlich auf Liastea gerichtet. »Orks, Tauren, Gebirgskobolde, Elben und all die anderen minderen Völker sollten getrennt leben.«
»Aber warum können diese Geschöpfe nicht miteinander leben?«, hinterfragte Iasanara.
»Ich wollte mitansehen, welcher meiner Schöpfungen es gelingen würde, über die anderen zu herrschen. Durch euren unerlaubten Eingriff verändert sich das Gefüge.« Der Schicksalsweber massierte nachdenklich sein Kinn. Dann umspielte ein breites Lächeln den Mund. »Um die Entscheidung des Schicksals für mich faszinierender zu gestalten, werde ich die Portale verbergen. Der erste Herrscher über die Drachen wird in seinen Träumen das Wort der Magie erfahren, das die Wege zu den anderen Welten öffnet.«
»Die minderen Völker auf Iasanara sind um vieles schwächer als die Dämonen und Drachen«, warf Liastea ein.
»Um die Schwäche auszugleichen, werden die Dämonen und Drachen nur sieben Sonnenwanderungen in ihrer natürlichen Gestalt auf einem anderen Planeten leben können.«
Zufrieden mit der Einschränkung nickte Iasanara.
»Andererseits könnte ich eine Magiequelle auf Sonterian und Xandrian verbergen, die es den jeweiligen anderen Völkern ermöglicht, länger auf den fremden Welten zu leben.« Das dröhnende Lachen des Schicksalswebers hallte von den Felswänden wider.
»Aber …«
»Falls es den Geschöpfen auf Iasanara gelingt, ihre von mir heraufbeschworene Feindschaft abzulegen und zusammen gegen die mächtigeren Drachen und Dämonen zu kämpfen, entgehen sie der vorbestimmten Knechtung.«
Iasanara stolperte rückwärts. Keuchend presste sie die Handfläche auf den schmerzenden Brustkorb. Durch die Worte des Schicksalswebers erkannte die Weltenerbauerin, dass sie Geschöpfe erschaffen sollte, die, bevor sie den ersten Atemzug ausgeführt hatten, bereits als Unterdrückte galten.
»Ich spreche noch eine Prophezeiung aus«, kündigte der Schicksalsweber großtuerisch an. »Das Schicksal der auf Iasanara lebenden Völker ist an eine Verbindung geknüpft, die zwei Seelen eingehen.«
»Aber was ist, wenn sich die Seelen nicht treffen?«, zweifelte Liastea seine Entscheidung an.
»Ich spinne die Fäden zweier Geschöpfe in einer solchen Weise, dass es früher oder später zu einer unentrinnbaren Begegnung kommen wird.«
»Erlaubt Ihr, dass wir Schriften zurücklassen?«, fragte Iasanara. Das unangenehme Kribbeln in ihrem Bauch verschlimmerte sich bei jedem Atemzug. Ihre Zunge fuhr über die trockenen Lippen. Mit aufgerissenen Augen beobachtete sie den Gebieter, wie er mit dem Zeigefinger den Fluss nachzog.
»Jeder Weltenerbauer darf seinen Schöpfungen verborgene Hinweise hinterlassen.« Er grunzte zufrieden. »Formt die Völker mit dem Wort der Magie, bevor der nächste Neumond über das Firmament wandert. Ich werde eure Brüder aufsuchen.« Lachend verließ der Gebieter die Höhle. Das ihn begleitende Licht war nicht mehr zu sehen, dennoch hörte Iasanara weiterhin sein Gelächter.
»Es wird den minderen Geschöpfen nicht gelingen. Die Feindseligkeiten werden ihre Handlungen bestimmen«, sprach Liastea ihre Gedanken aus.
»Ich werde einen Ehrenkodex erlassen, durch den die Völker gezwungen sind, von ehrlosen Überfällen abzusehen.«
»Und wenn wir uns weigern?«
»Ein Fingerschnippen des Gebieters reicht aus, dass dein Leben aus dem Körper fließt«, erinnerte Iasanara ihre Schwester. »Das Schicksal liegt jetzt in den Händen der Seelen, die sich finden müssen.«
Nickend betrachtete Liastea die Karte. »Damit das Wissen über die schicksalhafte Prophezeiung und die Abwendung durch die Seelenverbundenen nicht verloren geht, besuche ich den Großmeister der Magiergilde auf Vilor. Ein Magier muss über die Aufzeichnungen wachen«, beschloss Iasanara. Mit fest aufeinandergepressten Lippen starrte sie in die Dunkelheit vor dem Höhleneingang.
»Ich kehre in meinem Turm zurück, um Maßnahmen zu treffen, die den Seelenverbundenen helfen werden, die Bestimmung der minderen Völker abzuwenden. Wenn der Vollmond über den Himmel wandert, forme ich die ersten Geschöpfe.«
»Unsere Schöpfungen werden stark sein«, versprach Iasanara. »Zusammen verändern sie ihr Schicksal.« Sie umarmte Liastea und spürte, wie eine einzelne Träne die Wange hinabkullerte.

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